Breivik News Montag, 25.06.2012 aus Oslo
Breivik-Prozess
Rechtsstaat und gefühlte Gerechtigkeit
von
Im Zweifel unzurechnungsfähig
Im Breivik-Prozess entlädt sich das ganze Spannungsfeld zwischen
Rechtsstaat und
gefühlter Gerechtigkeit.
Wie soll ein Gericht
entscheiden, wenn Zweifel an
der Schuldfähigkeit des Angeklagten
bestehen?
Unbeteiligt, fast reglos sitzt er da.
Ohne jegliche Empathie schlürft
er einen Kaffee, als stehe er in einer unglaublich langweiligen
Verwaltungssache vor Gericht und brauche Koffein,
um sich wach zu
halten.
Tatsächlich jedoch geht es um 77-fachen Massenmord.
Es geht um
die Frage, ob sich Anders Behring Breivik
für die blutigsten Anschläge
in der Geschichte Norwegens verantworten muss.
Nach einer Umfrage haben drei Viertel der
norwegischen Bevölkerung
ihr Urteil bereits gefällt:
Breivik muss ins Gefängnis.
Die
Staatsanwälte Inga Bejer Engh und
Svein Holden sehen das anders.
Oder
vielmehr:
Sie müssen das anders sehen.
Sie sind unabhängige Organe der
Rechtspflege
und haben zu beantragen, Breivik in die
Psychiatrie
einzuweisen, wenn Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten
bestehen.
Eine Errungenschaft in der Entwicklung des
modernen
Rechtsstaaats ist das Prinzip
„Im Zweifel für den Angeklagten“.
Selbst
für den kaltblütigsten Täter muss dieses
Prinzip angewendet werden.
Bildergalerie: Rechtsextreme Symbole im Wandel
In mehr als dreißig Prozesstagen hat sie versucht
zu beweisen, dass sich Breivik für seine Taten voll verantworten muss.
Staatsanwältin Engh sagte:
„Das
unbegreiflichste ist, wie der Angeklagte die
Taten auf Utøya
beschreibt.
Er ist völlig unbeteiligt, wenn er darüber redet, was
er dort gemacht hat.“
Am Ende des Prozesses sind die Kläger mit ihrem
Ziel gescheitert.
Nun läuft alles darauf hinaus, dass sich Breivik
nicht für seine Taten verantworten kann und in
die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wird.
Im Mittelpunkt standen neben dem Täter auch die Angehörigen der
Todesopfer von Oslo und Utøya.
Wie stehen die Hinterbliebenen nun da?
Hat der Prozess geholfen, den Schmerz über den
Verlust zu lindern?
Trond
Blattmann, der Vater eines Opfers auf Utøya
und mittlerweile Sprachrohr
der Angehörigen, sagte:
„Es war ein guter Prozess, um alles zu klären.
Er war würdevoll in guter norwegischer Rechtstradition.“
Ihm sei es
egal, ob Breivik in die Psychiatrie oder in
die Haftanstalt müsse.
Hauptsache sei, dass die Gesellschaft für immer
vor ihm geschützt werde.
Nun kann man sich auf diesen Standpunkt zurückziehen.
Es mag auch
verständlich sein, dass es den Angehörigen der Opfer nun auch darum
geht,
die Akte Breivik zu schließen.
Und dennoch sollte man sich der
Frage zuwenden,
wie eine freie Gesellschaft mit Menschen umgeht,
die
grausam gemordet haben.
Die aber wegen des Umstands, nicht schuldfähig
zu sein, nicht bestraft werden, keinen Schuldspruch erfahren, keine
Verantwortung übernehmen.
Bemerkenswert ist die Aussage des
Staatsanwalts Holden, nach „derzeitiger Gesetzeslage“ sei Breivik nicht
straffähig.
Aus diesem Statement liest man einen Ruf nach Änderung. Es
möchte dieses hohle Bauchgefühl überwinden, das einen beschleicht, einen
mutmaßlichen Massenmörder, ohne dass er sich
für seine Taten
verantworten muss, Psychiatern zu übergeben.
Die Wortwahl „derzeitige
Rechtslage“ drückt ein unbefriedigendes Ergebnis aus.
Zum „inneren Schweinehund“.
Diesen Begriff nutzte bereits Kurt Schumacher (SPD)
in einer Rede vor dem Reichstag 1932 gegen die
NSDAP-Fraktion, der er vorwarf, genau an diesen inneren Schweinehund zu appellieren.
Die niedrigsten Motive des Menschen anzusprechen.
Ohne damals freilich ahnen zu können, welch verbrecherisches Regime sich schon kurze Zeit
darauf bahnbrechen würde.
Während in westlichen Rechtskreisen der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ fest etabliert ist, wurde
dies im NS-Unrecht durch das Prinzip
„Keine Strafe ohne Verbrechen“ abgelöst.
Auf die Schuldfähigkeit des Täters kam es nicht an, vielmehr darauf, das Individuum im Verfahren zu vernichten.
Im NS-Staat stand am Ende immer ein Schuldspruch, wenn es darum ging, echte oder vermeintliche Verbrechen zu sühnen.
Wer nun fordert, eine Person zu bestrafen, deren Schuldfähigkeit nicht zweifelsfrei festgestellt
werden kann, begibt sich unweigerlich in die Nähe
derer, die er eigentlich weit von sich wissen will.
Beim Blick zurück auf den Strafprozess gegen
Breivik entlädt sich
einmal mehr eklatant das
gesamte Spannungsfeld zwischen
rechtsstaatlicher Ordnung und dieser gefühlten Gerechtigkeit.
Wenn man
nun dem inneren Verlangen folgt,
Breivik müsse doch für diese
ungeheuerlichen Taten
die Verantwortung übernehmen.
Diese Taten dürften
doch nicht ungesühnt bleiben.
Dann lässt man dem von Schumacher
angesprochenen inneren Schweinehund freien Lauf.
Im Rechtsstaat gelten
jedoch andere Prinzipien,
deshalb musste zu Beginn des Breivik-Prozesses
ein Schöffe ausgewechselt werden, weil er sich im
Sommer 2011
dahingehend äußerte, dass die Todesstrafe die einzig in Betracht
kommende Strafe
für derartige Taten sei.
Dieser quälende Widerspruch zwischen den beiden Polen wird am Ende
des Tages nicht aufzulösen sein.
Jeder einzelne Bürger muss stets wieder
den
inneren Schweinehund bekämpfen, die vermeintlich schnelle Antwort
hinterfragen.
Mal fällt es leichter, mal kommt man über diesen
Widerspruch kaum hinweg.
Breivik möchte notfalls die Haftstrafe
antreten, als nationalistischer „Freiheitskämpfer“ mit gesunder Psyche.
Auch dieses Verlangen spielt keine Rolle, wenn es
um die Frage der
Zurechnungsfähigkeit geht.
Im Zweifel ist er unzurechnungsfähig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen