Dieses Urteil
ist ein Witz. Jeder Berufungsrichter
überall auf der Welt wird die
Begründung für die lebenslange Freiheitsstrafe für Mubarak in der
Luft
zerreißen.
Es gibt keine Beweise dafür, dass Mubarak im
Frühjahr 2011
selbst den Schießbefehl auf
friedliche Demonstranten gab.
Er trage
die politische Verantwortung, sagt die Begründung - ja, aber ohne
Beweise wird sich
das Urteil nur schwer halten lassen.
Dem Gericht kann
man zugute halten, dass es
trotz der Behinderungen durch den alten
Mubarak-Sicherheitsapparat ein mutiges Urteil gefällt hat,
lange halten
wird es nicht.
Ein genial inszeniertes Schauspiel
Der Verdacht liegt nahe, dass die Ägypter mit einem Schauprozess an
der Nase herumgeführt wurden.
Wie überhaupt die vergangenen 16 Monate
den Anschein eines genial inszenierten Schauspiels
tragen - mit dem
Ziel, die Revolution zu
diskreditieren und die Forderungen nach mehr
Demokratie, nach Einhaltung der Menschenrechte,
nach mehr Freiheit ins
Leere laufen zu lassen.
Der letzte Akt dieses Schauspiels sieht
demnach
so aus:
Bei der Stichwahl für das Präsidentenamt in zwei Wochen
siegt der alte Mubarak-Vertraute Ahmed Schafik, und eine seiner ersten
Amtshandlungen
wird die Begnadigung seines Waffenkameraden Mubarak sein.
Dessen Söhne Gamal und Alaa, die wie kaum
andere finanziell von der
politischen Macht
ihres Vaters profitierten, lachen sich ins Fäustchen.
Scheitert die ägyptische Revolution?
Die alten Eliten ziehen in der Zukunft wieder offen die Fäden im
Land, die politischen wie die wirtschaftlichen - wie sie es in den
vergangenen 16 Monaten schon im Hintergrund getan haben. Bei einem
solchen Szenario wäre die ägyptische Revolution gescheitert - wären da
nicht Tausende junge Ägypter, die das Schauspiel durchschaut und ihre
Statistenrolle aufgekündigt haben.
Ihnen ist zuzutrauen, weiter
gegen die alten Machteliten auf die Straße zu gehen.
Das werden sie so
lange tun, bis sie ihre Ziele erreicht haben.
Oder bis das alte Regime,
das jetzt wieder im Aufwind ist, sie brutal mundtot gemacht hat, was
durchaus zu befürchten ist.
Es werde eine zweite Revolution geben,
versprachen die Demokratie-Aktivisten vom Tahrir-Platz, und wenn nötig
eine dritte und eine vierte, bis Mubarak endgültig seine Macht über das
Land verliert und die Vertreter des Systems Mubarak keinen Einfluss mehr
haben werden.
Ihnen und Ägypten steht noch ein langer, steiniger Weg
bevor.
von den Wählern, sondern von den Aktiven, den Engagierten.
Die Frage soll
deshalb lauten:
Was bringt so viele (vormals vermeintlich
politikverdrossene) Menschen dazu, so viel Zeit
und Energie in das
Projekt Piratenpartei zu stecken?
Woraus schöpfen sie ihre Motivation?
Wieso können sie es nicht in einer anderen Partei
oder in einem
Interessenverband tun?
Und wieso können sie es nicht
allgemeinverständlich erklären?
Hier kommt die Antwort:
Weil sie, wie die Grünen damals, neue
Kernideen
haben, in der sie allen anderenParteien fundamental widersprechen.
Diese Kernideen haben zwar nicht so
prägnante Bezeichnungen wie “Frieden” oder “Umweltschutz”.
Das bedeutet
aber nicht, dass sie weniger
bedeutend wären für die Menschheit.
Es geht
hier nicht um ein «Nischenthema»
Internet.
Es geht um zentrale
gesellschaftliche Fragen.
So zentral, dass sie für einen wachsenden Teil
der Bevölkerung wichtiger werden als liberale, sozialdemokratische oder
grüne Anliegen.
Piraten wurden im Internet sozialisiert.
Dies führt zu
einem so anderen Kultur- und Gesellschaftsverständnis, dass sie oft die
anderen Parteien nicht mehr verstehen.
Darum können sich viele Piraten
auch gar nicht vorstellen, sich in einer anderen Partei zu
engagieren.
Die Verständnislosigkeit ist also gegenseitig.
Was für Piraten
selbstverständlich ist, ist
für Aussenstehende gänzlich unbekannt.
Zu
erkennen, wo genau diese Bruchlinien liegen,
ist für beide Seiten
genauso schwierig
festzumachen, aber unabdingbar für eine
gelingende
Kommunikation.
Hier ist der Versuch, die drei wichtigsten
Botschaften der Piraten herauszuschälen
und auf den Punkt zu bringen:
1. Plattformneutralität
Zuerst war es bloss die Netzneutralität:
Die Forderung, dass im
Internet jedes Datenpaket gleich behandelt wird, egal woher es kommt,
wohin es geht, und was es enthält.
Es gibt keine Überholspur für
Privilegierte und keine Diskriminierung von «unwichtigen»,
«unerwünschten» oder «unprofitablen» Daten – wer immer das dann
bestimmen könnte.
Die Piraten haben erkannt, welche freiheitliche, demokratische Kraft
die Einhaltung dieses
Prinzips freisetzt, und wie es Wissen, Ideen und
Kultur, und damit die Menschen, zur Entfaltung bringt. Deshalb weiten
sie dieses Prinzip auf
jegliche öffentliche Institutionen
aus:
Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe
ermöglichen, müssen
gestärkt und ausgebaut
werden und gehören diskriminierungs-,
überwachungs- und barrierefrei
(bzw. so niederschwellig wie möglich)
allen angeboten.
Und mit «alle» sind auch wirklich alle Menschen
gemeint
– bedingungslos.
Während die anderen Parteien die
Informationsfreiheit
hier und da beschränken,
wollen die Piraten dieses Grundrecht nicht nur
verteidigen, sondern zum Leitgedanken jeglicher
Politik machen.
Wenn Piraten also «fahrscheinlosen öffentlichen Personennahverkehr»,
Ausländerstimmrecht und Wahlalter 0, freie Lehrmittel oder einen
laizistischen Staat fordern, dann hat dies alles mit dieser Idee zu
tun,
allen Menschen eine neutrale Plattform zur Verfügung zu stellen.
Informatiker und Ingenieure befinden sich in einem moralischen
Konflikt: Sie entwickeln Maschinen,
die menschliche Arbeit überflüssig,
also Menschen arbeitslos macht.
Arbeitslosigkeit gilt in allen
etablierten Parteien als
eines der grossen Probleme, das auf jeden Fall
bekämpft werden muss.
Also sagt man der Effizienzsteigerung den Kampf
an.
Längst nicht mehr nur in der Landwirtschaft subventioniert man die
Erhaltung ineffizienter Strukturen.
Auch die Industrie ist voll davon
erfasst worden.
Der Erhalt des «Werkplatzes Schweiz» und seiner
Arbeitsplätze wird von der Politik gerade zur Staatsaufgabe erklärt.
Firmen, die ihre Effizienz steigern und dadurch
Stellen streichen, wird
der Vorwurf gemacht, sie
würden ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.
Arbeit wird zur Beschäftigungstherapie.
Technikfeindlichkeit und
Fortschrittspessimismus nehmen Überhand.
Die Piraten können diese Sichtweisen nicht teilen.
Sie streben eine
Versöhnung der Gesellschaft mit
dem Effizienzgewinn an.
Der moralische
Konflikt lässt sich auflösen, wenn
die ganze Gesellschaft an den
Fortschritten
teilhaben kann.
Die Wirtschaft soll die Aufgabe erhalten,
die
Menschen von der Arbeit möglichst zu befreien.
Und der Staat, also
die Allgemeinheit, soll dafür
sorgen, dass Menschen ohne Erwerbsarbeit
trotzdem auf ihre Rechnung kommen, und nicht marginalisiert
und mit
Brosamen abgespeist werden.
Dies bedeutet die radikale Abkehr von der
protestantischen Arbeitsmoral, die bis heute in
den Schweizer Köpfen
steckt.
Diese war erfolgreich im Industriezeitalter, aber
im
Informationszeitalter steht sie im Weg.
Die Volkswirtschaft benötigt
Effizienz, nicht Vollbeschäftigung.
3. Emanzipation durch Selbstbestimmung
Was haben eine Frauenquote und ein Kopftuchverbot gemeinsam?
Mit
beiden Ideen wird versucht, Emanzipation zu erzwingen.
Auch diese Idee
ist im ganzen Politspektrum weit verbreitet. Gut kann man das bei der
Argumentation gegen das bedingungslose Grundeinkommen beobachten:
Links
wie rechts behaupten, ohne Zwang zur Arbeit würden die Menschen
lethargisch und würden sich selbst aufgeben.
Feministinnen haben Angst,
Frauen würden dann umso mehr die unbezahlte Care-Arbeit machen,
Nationalisten haben Angst, jugendliche Ausländer würden nur noch
herumhängen, und Sozialarbeiter und Gewerkschafter haben Angst, sie
würden ihre Macht verlieren in der Emanzipationsindustrie.
Emanzipation
durch von oben verordneten Arbeitszwang, das ist ihr Rezept.
Piraten haben die Erfahrung gemacht, dass ganz
ohne Zwang so
grossartige Dinge wie Linux oder
die Wikipedia entstehen.
In der
Piratenpartei sind die Nerds und
Aussenseiter daran, sich selbst zu
emanzipieren.
Nicht, indem sie sich den Regeln unterwerfen und
sich in
der gesellschaftlichen Hierarchie nach
oben arbeiten.
Piraten denken
nicht in Hierarchien,
sondern in Netzwerken.
Sie emanzipieren sich,
indem sie sich ein eigenes, tragfähiges Netzwerk bauen.
Indem die das
machen, was sie für richtig halten,
und nicht das, was von ihnen
erwartet wird.
Diese Emanzipation braucht keinen Zwang, keine Verbote
und höchstens rudimentäre Regeln.
Diese Emanzipation braucht Freiheit,
Zugang zu
Wissen, Möglichkeiten zur Teilhabe und Schutzräume durch
Anonymität, als Dünger für einen Prozess,
der von innen reift.
Piraten
wissen, dass Gras nicht schneller wächst,
wenn man daran zieht.
Wenn Piraten also für ein Grundeinkommen und
gegen einen Mindestlohn,
für Sterbehilfe und Drogenlegalisierungs, für freie Ladenöffnungszeiten
und gegen Videoüberwachung sind, dann hat dies
damit zu tun, dass
Piraten den Menschen das
Vertrauen schenken, dass sie in der Regel
selbstbestimmt über ihre Arbeits-, Beziehungs-,
Lebens- und
Sterbensverhältnisse
entscheiden können.
Fazit
Die Piratenpartei ist viel mehr als ein Konglomerat
von Populisten,
Dilettanten und Wutbürgern.
Auch wenn die drei hier umrissenen
Botschaften vielleicht nur ein persönlich gefärbter Ausschnitt
sind, so
ist für mich unbestritten:
Die Piraten haben ihre eigene, fundamental
andere
Sicht auf die Welt.
Das ist ihr Antrieb, das ist ihre Kraft.
Bloss wissen sie es allzu oft nicht in Worte zu
fassen, und lassen die
Menschen darum fragend
bis ratlos zurück.
Es ist aber bloss eine Frage
der Zeit, bis das
passende Vokabular gefunden wurde, das eine
Kommunikation ermöglicht.