Duda News Montag, 06.08.2012
Marcel Duda
Sonntag, 5. August 2012
Schule im Aufbruch-Für ein neues,
humanes Schulsystem
"Schule im Aufbruch" zugesandt bekommen.
Da diese eine demokratische Debatte über grundlegende Leitlinien unseres Schulsystems
fordert, halte ich dies für den besten Zeitpunkt,
ein paar grundlegende Probleme unseres
Schulsystems herauszuarbeiten und mögliche Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Ich möchte diesen Post also dazu nutzen, um meinen Teil zur Debatte beizutragen, was natürlich auch heißt, dass ich über Rückmeldungen meiner Leser_innen
wie immer sehr erfreut wäre.
Einseitige Berufsorientierung
Unser heutiges Schulsystem setzt in großem
Umfang auf Berufsorientierung.
In jeder Debatte, die zum Thema Schulpolitik
geführt wird, fällt mindestens einmal der Satz
"Wie können wir unsere Schüler am besten auf
die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes vorzubereiten?".
Die Tatsache, dass diese Frage von großen Teilen
der politischen Öffentlichkeit zum Hauptproblem
der Bildungsdebatte erhoben wurde, ist bezeichnend
für den Zustand unseres demokratischen - oder
kann man es inzwischen schon plutokratisch
nennen ? - Systems.
Nicht etwa freies und kritisches Denken soll
gefördert werden, sondern die perfekte
"Arbeitskraft" soll erstellt werden, um die
Bedürfnisse des "Marktes" zu befriedigen.
Ob die derzeitige Politik geeignet ist, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, sei angesichts des "Fachkräftemangels" dahingestellt.
Es reicht für meine Analyse zunächst aus, zu
erkennen, dass diese einseitige Berufsorientierung
ein Primat darstellt, das sich durch das komplette Bildungssystem zieht.
Ich denke, dass sich die meisten Verfehlungen
des Schulsystems vor diesem Hintergrund
verstehen lassen.
Selektion und Leistungsbewertung
Eine der großen Leistungen, die unser Schulsystem
für den "Arbeitsmarkt" erbringt, ist die frühzeitige Selektion von Schüler_innen in Gymnasium, Real-
und Hauptschule.
Die Wurzeln dieses Schulsystems lassen sich in
eine Zeit zurückverfolgen, als die deutsche
Gesellschaft starr in Adel/Klerus, Bourgeoisie und
Plebs gegliedert war.
Einzelne Gesellschaftsschichten wollten
sicherstellen, dass ihr Nachwuchs zum Einen
nicht von der Dummheit der "niederen"
Schichten verdorben wird, und ihm zum
Anderen eine priviligierte Position für
gesellschaftlichen Erfolg zu verschaffen.
Dass die soziale Durchlässigkeit des
Bildungssystems auch heute noch zu
wünschen übrig lässt, sollte vor diesem
Hintergrund wenig verwunderlich sein.
Laut einer aktuellen Studie des Allensbach-
Institutes denken 90% der Lehrer_innen,
dass die soziale Schicht der Schüler_innen
einen maßgeblichen Einfluss auf die
erreichten Noten hat.
Dass sie mit dieser Einschätzung Recht
haben, erscheint unausweichlich, wenn man
einen tieferen Blick in das Notensystem wirft,
wie er mir zum ersten Mal durch das Buch
"Was wir unseren Kindern in der Schule antun -
und wie wir das ändern können" von Sabine Czerny, welches sehr empfehlenswert ist, gewährt wurde.
Zunächst sollte man sich vor Augen führen, dass
die Note "4" auch als "ausreichend" bezeichnet wird.
Diese Note wird vergeben, wenn ein_e Schüler_
in alle im Unterricht beigebrachten Inhalte
versteht und reproduzieren kann.
Bessere Noten können nur erreicht werden,
wenn Anforderungen "im besonderen Maße"
erfüllt werden, der/die Schüler_in also
Leistungen erbringt, die nicht Teil des
Unterrichtes sind.
Diese Kenntnisse müssen also zwangsläufig
außerhalb der Schulzeit erworben werden.
Dass dieses Kindern von reichen Eltern leichter
gelingt als Kindern aus "bildungsfernen Schichten" sollte selbst für den/die leidenschaftlichste_n Apologet_in des Systems schwer zu bestreiten sein.
Der Bildungserfolg der Eltern wird also von
Anfang an in der Schule reproduziert.
Eine weitere Perversität der Notengebung besteht
darin, dass Lehrer_innen dazu angehalten werden, Klausuren zu entwerfen, die weder "zu einfach"
noch "zu schwer" sind.
Die Schwere einer Klausur wird dabei von
Vorgesetzten anhand des Notenspiegels bewertet.
Sind also in einer Klasse zu viele "einser" ist dies
nicht etwa ein Beleg für die pädagogische
Kompetenz der Lehrkraft, sondern wird als dessen Fehler bei der Klausurkonzeption betrachtet.
Der Notenspiegel soll innerhalb einer Klasse der Annahme einer Normalverteilung der Intelligenz folgen.
Dass eine solche Normalverteilung, selbst wenn
sie empirisch in der Bevölkerung vorhanden sein
sollte, nicht innerhalb einer kleinen, zufällig ausgewählten Klasse, reproduziert wird, sollte
jedem Menschen mit einem Grundverständnis
von Mathematik sofort einleuchten.
Da die Annahme der Normalverteilung jedoch reproduziert werden soll, müssen Prüfungen
so gestaltet werden, dass sie, zum Beispiel
durch missverständliche Fragestellungen,
Fehler produzieren.
Die psychologischen Schäden, die durch eine Leistungsbewertung im frühen Kindesalter
verursacht werden, sind gravierend.
Menschen können erst in späten Stadien ihrer Entwicklung zwischen der Bewertung ihrer
Leistung und einer Bewertung ihrer Person differenzieren.
Schlechte Noten, die, wie oben beschrieben,
verteilt werden MÜSSEN, werden also als
Abwertung der eigenen Person und als
Verweigerung von Liebe und Anerkennung
durch Lehrer_innen wahrgenommen.
Durch diesen enormen psychischen Stress
entstehen schnell Selbstbilder, die den Schüler_
innen suggerieren, dass sie "eh nur ein 4-er
Kandidat" seien.
Durch die Tatsache, dass stärkere Schüler_innen
dem selben Leistungsdruck ausgesetzt sind, wird
der Aufstieg in höhere Notenregionen, die ja per Definition nur im Vergleich zu den Anderen
erreicht werden können, erschwert.
Schüler_innen verzweifeln so schnell an der Schule.
Sie wird zum Ort der Pein und Schande.
Ihre Selbstbilder werden grundsätzlich negativ
geprägt, wodurch Leistungsbereitschaft und -
fähigkeit signifikant sinken.
Minimale Unterschiede in der zeitlichen
Entwicklung, die vor allem durch das Elternhaus
bedingt sind, werden durch diese
psychologischen Effekte immer mehr verstärkt,
sodass schlechte Noten über die Zeit zur selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
Dass dadurch sowohl eine große Menge
intellektuellem, als auch menschlichem
Potenzials verschenkt wird, sollte einleuchtend
sein; vor allem, wenn man bedenkt, dass alle
Menschen mit Milliarden von Synapsen in ihrem
Gehirn das Leben beginnen, die nur darauf warten,
angemessen stimuliert zu werden.
Intelligenz ist lediglich der Grad der Verknüpfung
von Synapsen, der durch diese Stimulation
erreicht wird.
Es gibt also keine "dummen" Kinder, sondern
lediglich Kinder, die dumm gemacht werden.
Auch diese Verdummung eines großen Teiles der Bevölkerung ist natürlich im Interesse des "Marktes".
Dieser möchte keine kritisch denkenden Menschen, sondern Konsument_innen, die sich nicht
beschweren, für 8€ die Stunde zu schuften, um
sich danach mit den ach so tollen Errungenschaften
des Kapitalismus wie "Bubble Tea" und "Shopping-Trips" die Sinnlosigkeit ihres wirtschaftlichen
Handelns zu kompensieren.
Da Kapitalismuskritik wohl noch einen großen Teil meiner weiteren Schreibarbeit in diesem Blog ausmachen wird, belasse ich es für diesen Post dabei, um nicht in endloses, zielloses Schwafeln auszuarten.
Um diesen Abschnitt zu den psychischen Folgen
zu vervollständigen, möchte ich noch klarstellen,
dass die Notengebung nicht nur denjenigen
schadet, die am unteren Ende der Skala stehen.
Auch das Selbstbild der "guten" Schüler_innen
ist hochgradig prekär, da jeder Klassen- oder Lehrerwechsel die Bewertungsgrundlage
komplett verändern kann.
Die psychologischen Folgen eines solchen
plötzlichen Leistungsabfalls habe ich selber erlebt,
als ich vor ein paar Jahren zu den 15% der 14- bis 16-jährigen gehörte, die akut selbstmordgefährdet
waren (Quelle: SEYLE-Studie).
Des Weiteren ist der Konkurrenzgedanke, der
durch solch ein Notensystem geschürt wird,
sicherlich nicht förderlich für eine Spezies, die
sich evolutionär aufgrund ihres ausgeprägten Sozialverhaltens und Kooperation durchgesetzt
hat.
"Aber man kann doch nicht einfach die
Notengebung abschaffen, dann würde doch
niemand mehr lernen wollen." ist ein Einwand,
den ich oft zu hören bekomme.
Für ältere Menschen, die durch das Schulsystem
bereits so geprägt wurden, dass lediglich der Leistungsnachweis zu einer bestimmten Zeit
wichtig ist, während die darauf folgende
Aufarbeitung eigener Schwächen nicht belohnt,
sondern durch Zeitverlust für die Erarbeitung
anderer Themen, sogar bestraft wird, mag das
stimmen.
Es gibt keinerlei Motivation, etwas nach der
Klausur verstehen zu wollen, da die Bewertung
nicht verändert werden kann.
Im Grunde ist jeder Mensch, der von der
Gesellschaft noch nicht komplett vergrault wurde,
bereit zu lernen.
Der berühmte humanistische Psychologe Maslow
hat dieses Bedürfnis sogar zu einem Bestandteil
seiner berühmten "Bedürfnis-Pyramide" gemacht
und damit den Wert des Lernens als elementares menschliches Bedürfnis herausgestellt.
Wer an dieser inhärenten Motivation zum Lernen zweifelt, sollte sich die Zeit nehmen, Kinder, die
noch nicht vom Leistungsdruck geknebelt sind,
zu beobachten. Sie entdecken ihre Welt spielerisch
und stellen eine Fülle von Fragen an Erwachsene.
Sie wollen ihre Welt verstehen, ohne dafür unter irgendeinen Druck gesetzt zu werden.
Ein großes Problem an unserem Bildungssystem
ist, dass es so gut wie keine positiven Anreize
zum selbstständigen, entdeckerischen Lernen
gibt, sondern die Schüler_innen in eine
ständige Abwehrhaltung gegenüber Bestrafung
durch schlechte Noten setzt.
Das Hetzen von einer Prüfung zur anderen führt
dabei zum sogenannten "Bulemie-Lernen", bei
dem das nötige Faktenwissen für die nächste
Klausur in das Gedächtnis geradezu eingeprügelt
wird, um nach der Klausur als nutzloser Ballast
wieder vergessen zu werden.
Eine Schule ohne die ständige Notwendigkeit des Beherrschens eines vorgegebenen Faktenwissens würde viel mehr Platz für eigenständiges Lernen,
das jedem Menschen die Chance gibt, die eigenen Fähigkeiten und Interessen zu verfolgen, geben.
Durch die Vorstellung der Ergebnisse dieses eigenständigen Lernprozesses in der Gruppe
profitieren alle Schüler_innen von einer großen
Fülle von neuen Ideen, während der/die Vortragende_r sein Wissen durch Weitergabe festigt und gleichzeitig Kommunikationstraining auf hohem Niveau betreibt.
Da der ständige Konkurrenzdruck in einer Schule
ohne Noten wegfällt, wird Kooperation und Sozialverhalten gefördert und Egoismus
missbilligt.
Eine solche "Schule ohne Noten" würde aber
nicht zwangsläufig bedeuten, dass keine
Prüfungen mehr stattfinden.
Es bleibt in einer solchen Organisationsform
immer noch die Möglichkeit, Lernzielkontrollen schreiben
zu lassen.
Eine personalisierte Rückmeldung über spezifische Fehlerquellen erweist sich dabei als viel effektiver
als eine Bewertung der Leistung als Note mit allen
ihren negativen Folgen.
Lehrer_innen sollen die Chance bekommen, das
zu tun, wofür sie bezahlt werden- den Schüler_innen möglichst viel Wissen zu vermitteln- anstatt sich
mit ständiger Selektion beschäftigen zu müssen.
Falsche Lehrmethoden
Der heute immer noch vorherrschende
Frontalunterricht ist ineffektiv und für die Schüler_innen wenig motivierend.
Das Einprasseln von vielen abstrakten Fakten auf
die Schüler_innen wird den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Psychologie nicht gerecht.
Wie ich bereits zuvor beschrieben habe, besitzt
jeder Mensch Milliarden von Nervenzellen, die Erfahrungen speichern und verknüpfen.
Die Reichhaltigkeit sinnlicher Erfahrungen ist im Lernprozess vor allem für jüngere Kinder von
großer Bedeutung, da abstrakte Konzepte immer
einer erfahrenen sinnlichen Grundlage bedürfen.
Die Abbildung einer Blume in einem Biologiebuch
kann die sinnliche Erfahrung der realen Blume, die
nicht nur das Sehen, sondern auch das Fühlen und Riechen betrifft, nicht ersetzen.
Obwohl ältere Kinder immer mehr in der Lage sind, abstrakte Konzepte zu entwickeln, ist die Grundlage dafür immer im selbstständigen Entdecken der
eigenen Umgebung gelegt.
Umso wichtiger ist es, in allen Entwicklungsstufen eigenständiges Arbeiten zu fördern.
Das heißt jedoch nicht, dass Kinder einfach allein gelassen werden, sondern benötigt eine individuelle Förderung, die Kinder bei dem selbstständigen
Erlangen von Kompetenzen unterstützend unter
die Arme greift, anstatt Ergebnisse einfach zu Präsentieren.
Dafür braucht es einen besseren Personalschlüssel sowie mehr Investitionen in und Zeit für Experimente,
die Theorie und Praxis verknüpfen.
Falsche Inhalte
Heutiger Unterricht setzt zum großen Teil auf die Vermittlung von schnödem Faktenwissen.
Diese Fokussierung wird einer Zeit, in der alle Informationen auf Knopfdruck verfügbar sind,
nicht mehr gerecht. Viel wichtiger wäre es, sich
in der Schule darauf zu konzentrieren, das Lernen
zu lernen- also Methoden zur Aneignung, Kategorisierung, und kritischen Bewertung von Informationen. Ich habe zum Beispiel erst im 12. Schuljahr gelernt, wie man mit wissenschaftlicher Literatur umgeht. In einem Schulsystem, in dem viele Schüler_innen schon nach 10 Jahren ins Berufsleben entlassen werden, stellt das ein Armutszeugnis dar.
Des Weiteren sollte schon früher eine stärkere Spezialisierung nach eigenen Wünschen möglich sein. Das könnte man so gestalten, dass statt einem Klassen- ein Modulsystem verwendet wird, in dem jede_r eine Grundausbildung auf jedem Fachgebiet bekommt und sich danach selbstständig entscheiden kann, ob er/sie sich auf ein oder mehrere bestimmte Gebiete spezialisieren möchte, oder weiterhin generalisiert weiter lernt. Das hätte den Vorteil, dass besondere persönliche Stärken schon früh gefördert würden und das Frustpotenzial bei ungeliebten Fächern sinkt, da diese nach dem Erwerben eines gewissen Grundverständnisses einfach abgewählt werden können. Dabei halte ich es für wichtig, die Wahl des Lebensweges so lange wie möglich offen zu halten, indem die Belegung eines Faches von anderen ausgewählten Fächern unabhängig ist. In der Praxis würde ein solches Lernen ähnlich wie das auf Universitäten bereits verwendete Modulsystem, in dem einzelne Module auch aufeinander aufbauen können, aussehen.
Weitere Aspekte
Ich habe mich aus Platzgründen dafür entschieden
in diesem Text nicht auf Forderungen wie die
inklusive Beschulung (die übrigens durch die Abschaffung der Notengebung erst ermöglicht wird) oder die stärkere Förderung von demokratischer Partizipation von Schüler_innen sowie von Gesamt-
und Ganztagsschulen einzugehen, da diese in
meiner Partei bereits mehr als ausführlich
bearbeitet wurden und es gerade in meinem Landesverband (Niedersachsen) genügend Expert_innen für diese Themen gibt, die sich
dazu sicher qualifizierter als
ich äußern können.
Deswegen habe ich mich in diesem Text vor allem
auf kontroverse Themen, die in der Debatte um eine bessere Schullandschaft häufig vergessen werden, konzentriert. Nichtsdestoweniger sind natürlich
auch die oben genannten Forderungen unbedingt
zu unterstützen, um mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen.
Ich hoffe, dass euch mein spontaner Beitrag zu
der Debatte gefallen und intellektuell befruchtet
hat, und freue mich auf den weiteren Fortgang
dieser Debatte.
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